"Queer" - Wieso ist das ein Thema für die ganze Gesellschaft?

Shownotes

Du willst gerne mehr über den Begriff queer erfahren? Dann kannst du zum Beispiel in eines dieser beiden Bücher reinschauen: Das LGBTQIA-Buch, erschienen 2023 im Penguin Random House Verlag ERKLÄRS MIR, ALS WÄRE ICH 5: Gender, Diversity und LGBTQIA von Petra Cnyrim und Sebastian Goddemeier, erschienen 2022 im Riva-Verlag

Weitere Infos über Anna Rosenwasser findest du unter https://annarosenwasser.ch. In ihre Buch "Rosa Buch: Queere Texte von Herzen" findest eine Sammlung von Kolumnen und Blogposts, in denen Rosenwasser zu den Themen Geschlecht und Anziehung schreibt. Anna Rosenwasser schreibt in ihrem Buch unverblümt und doch mit viel Empathie über Ungerechtigkeit, mangelnde Sensibilität und die Hoffnung, dass sich Dinge verändern können. Dabei versucht sie all diesen Themen mit Neugier und Humor zu begegnen - sie war also ganz offensichtlich die perfekte Gästin für diese Folge des queeren Einmaleins!

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00:00:00: Wenn mein Mitmensch irgendeinen Begriff verwendet, der veraltet ist und dadurch

00:00:04: abwertend, dann spüre ich sehr genau, ob er gerade sein Bestes gibt oder ob

00:00:10: er gerade rücksichtslos ist.

00:00:11: Wenn ich ein Wort falsch sage und mein Gegenüber wird wütend,

00:00:15: dann hat diese Wut nicht primär mit mir zu tun, sondern sie hat die Aussagekraft,

00:00:19: dass dieser Mensch schon ganz viel verletzt wurde innerhalb dieses Themenfelds.

00:00:24: Und wenn ich das erkenne, kann ich mehr Empathie gegenüber der Wut meines Mitmenschen aufbauen.

00:00:31: Music.

00:00:31: Das Queere 1x1: Dein Wissenspodcast rund um LGBTIQ+. Direkt, ehrlich, reformiert.

00:00:43: Der heutige Begriff im Queeren 1x1: Queer.

00:00:48: Das englische Wort Queer wurde 1894 erstmals in einem Brief des 9.

00:00:53: Marquess of Queensberry an seinen Sohn Lord Alfred Douglas als Synonym für homosexuell verwendet.

00:00:59: Ursprünglich bedeute Queer so etwas wie quer, verdreht, sonderbar oder sogar pervers.

00:01:05: Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde Queer als Schimpfwort für schwule

00:01:09: oder feminine Männer verwendet.

00:01:12: In den 1980er Jahren begann LGBTIQ-AktivistInnen im Rahmen der Aids-Krise den

00:01:17: Begriff Queer für sich zu beanspruchen und sich damit in ihrer Identität zu bestärken.

00:01:22: So schrieb etwa die Gruppe Queer Nation in ihrem Manifest, dass sie sich entschieden

00:01:26: haben, sie selbst als queer zu bezeichnen, weil sie dies stets daran erinnere,

00:01:31: wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen werden.

00:01:33: In den 1990er Jahren nutzt die italienische Forscherin Teresa de la Retis zum

00:01:38: ersten Mal das Begriffspaar Queer Theory als Überbegriff für alle Themen rund

00:01:43: um Gender und Sexualität.

00:01:45: Und durch die britische TV-Sendung Queer as Folk anfangs der 2000er Jahre gelang

00:01:50: Queer aus dem Aktivismus in den Mainstream-Wortgebrauch.

00:01:53: So wurde Queer zunächst vom Schimpfwort zur Bezeichnung für homo- und bisexuelle Personen,

00:01:58: wurde von der Community für sich übernommen und wird heute oft als Sammelbegriff

00:02:03: oder Selbstbezeichnung für Menschen genutzt, deren Geschlecht oder Sexualität

00:02:07: außerhalb der gesellschaftlichen Norm liegt.

00:02:10: Aufgrund seiner schwierigen Geschichte und Worterkunft gibt es jedoch auch Menschen

00:02:14: in der LGBTIQ-Plus-Community, welche den Begriff als abwertend wahrnehmen und

00:02:19: ihn eben nicht für sich selbst verwenden.

00:02:25: Begrüssung und weise Worte zum queeren Einmaleins

00:02:25: Damit Hallo und Grüezi zum Queeren 1x1.

00:02:28: Ich bin Benjamin Herrmann, Theologiestudent,

00:02:31: Mitarbeiter der Reformierten Kirche Zürich und Transmann.

00:02:35: In Queeren 1x1 präsentiere ich euch nicht nur Begriffe aus der LGBTIQ-Plus-Community,

00:02:41: sondern führe auch mit spannenden Expertinnen und Menschen, die selbst queer

00:02:45: sind, Gespräche über alles rund um das Thema Queerness und versuche dabei Antworten

00:02:50: auf meine und eure kleinen bis großen Fragen zu finden.

00:02:54: Am Anfang jeder Folge hört ihr eine Begriffserklärung aus dem Queeren 1x1.

00:02:59: Hier erfährt ihr, was Begriffe wie queer, trans, non-binär, pansexuell oder poly bedeuten.

00:03:05: Und steigt damit direkt mit neuem Wissen in die Folge ein.

00:03:08: Dieses Wissen dürft ihr natürlich gerne in der Pause bei der Arbeit,

00:03:12: im Kirchencafé nach dem Gottesdienst oder beim nächsten Treffen mit FreundInnen einbringen.

00:03:17: Im darauffolgenden Gespräch versuche ich mit Alltags- und FachexpertInnen mir

00:03:22: über den Begriff und seine Bedeutung für das Leben von queeren Menschen herauszufinden.

00:03:26: Es geht also darum, unverblümt und empathisch Fragen zu stellen,

00:03:31: die dazu beitragen, dass wir alle informiert über queere Themen sprechen können.

00:03:36: Ohne Drama, Übertreibung oder Empörung.

00:03:39: Dafür aber wohlwollend interessiert, faktenbasiert und mit der Offenheit immer

00:03:43: wieder herausgefordert zu werden.

00:03:45: Oder anders gesagt, direkt, ehrlich, reformiert.

00:03:48: In den ersten zwei Folgen werde ich mit zwei Personen aus der Kirchenleitung

00:03:52: und Politik darüber sprechen, wieso es überhaupt notwendig ist,

00:03:55: dass wir uns in der Gesellschaft und in der Kirche mit queeren Themen befassen.

00:03:59: Danach folgt die erste Staffel, die sich rund um das Thema Geschlecht und geschlechtliche Vielfalt dreht.

00:04:04: Wir werden auf der einen Seite von Fachpersonen hören, welche genderqueere Menschen

00:04:08: begleiten, andererseits aber auch mehr darüber erfahren, weshalb Intergeschlechtlichkeit

00:04:13: zum LGBTIQ-Plus-Akronym gehört hört und wieso es vorkommen kann,

00:04:16: dass Personen ihre Geschlechtsangleichung irgendwann abbrechen.

00:04:19: Eins meiner persönlichen Highlights sind die Folgen zum Thema Transkinder und

00:04:23: Jugendliche, wo ich einerseits mit Dr.

00:04:26: Matt Dagmar-Pauli von der Psychiatrischen Uniklinik Zürich darüber sprechen

00:04:30: werde, wie das Vorgehen in der Schweiz ist, wenn Kinder oder Jugendliche in

00:04:33: die Gendersprechstunde kommen.

00:04:35: Andererseits darf ich auch mit zwei Familien darüber sprechen,

00:04:38: was sich durch das Outing ihrer Kinder verändert hat.

00:04:41: Es wird also eine spannende erste Staffel des Queeren 1x1. Für das heutige Gespräch

00:04:46: konnte ich die Autorin und Nationalrätin Anna Rosenwasser gewinnen.

00:04:49: Zum ersten Mal hatten wir im Jahr 2022 Kontakt über Instagram.

00:04:53: Offline haben wir uns dann 2023 getroffen, als wir beide beim Online-Gottesdienst

00:04:58: der reformierten Kirche mitwirken durften.

00:05:00: Annas Arbeitsschwerpunkte liegen insbesondere im Bereich Feminismus und LGBTIQ+.

00:05:05: Wenn sie aus dem Wuhu, wie sie das Bundeshaus liebevoll nennt,

00:05:08: an ihre über 39.000 FollowerInnen bei Instagram berichtet, zeigt sie,

00:05:13: dass Rose auch eine Farbe der Kompetenz und Selbstsicherheit sein kann oder

00:05:17: befasst sich damit, welche Auswirkungen eine einfache Kleiderwahl darauf haben

00:05:21: kann, wie Mensch wahrgenommen wird.

00:05:22: Das Hauptthema unserer heutigen Folge ist, wieso es wichtig ist,

00:05:26: dass wir in unserer Gesellschaft über LGBTIQ-Plus-Themen sprechen.

00:05:30: Anna zeigt auch, wieso das für die ganze Gesellschaft ein Gewinn ist,

00:05:33: auch wenn sich nur eine Minderheit der Bevölkerung zur LGBTIQ-Plus-Community zählt.

00:05:37: Und sie verrät mir, was für sie persönlich das Schönste daran ist, queer zu sein.

00:05:41: Im Gespräch erzählt Anna zudem davon, wieso sie ihre Haltung zu christlichen

00:05:45: Gemeinschaften gerade im Rahmen der Abstimmungskampagne zur Ehe für alle revidieren

00:05:50: musste und wieso sie sich in ihrem Alltag manchmal eher wie ein Pokémon als ein Mensch fühlt.

00:05:56: Und damit entlasse ich euch in die erste Folge des queeren Einmaleins.

00:05:59: Ich wünsche euch spannende und natürlich lehrreiche Unterhaltung.

00:06:07: Anna, wir haben uns zum ersten Mal online getroffen sozusagen, nämlich im Jahr 2022.

00:06:13: Richtig kennengelernt haben wir uns dann aber erst 2023, als wir beide beim

00:06:18: Online-Gottesdienst der Reformierten Kirche mitwirken durften.

00:06:22: Du hast eigentlich nicht so viel mit Kirche am Hut. Wie kommt es denn,

00:06:26: dass wir uns gerade da kennenlernten?

00:06:28: Ich habe jetzt sehr viel mehr mit Kirche am Hut als noch vor wenigen Jahren.

00:06:33: Untertitelung des ZDF, 2020,

00:06:34: durch meine politische und aktivistische Arbeit. Ich wurde eigentlich schon aus dem damaligen.

00:06:42: Krumpfunterricht rausgenommen von meinen Eltern, weil sie fanden,

00:06:46: dass ich im Erwachsenenalter entscheiden sollte, welches Verhältnis ich zu Religion habe.

00:06:52: Meine Mutter ist reformiert, mein Vater ist jüdisch und ihre Schlussfolgerung

00:06:55: war, unsere Kinder sollen das später selbst entscheiden.

00:06:59: Das führte dazu, dass ich schon in der Grundschule eigentlich recht wenig mitgekriegt

00:07:05: habe rund ums Christentum verglichen mit den anderen und mich erst in den letzten paar Jahren,

00:07:14: liebevoll angenähert habe der Kirche.

00:07:16: Du hast dich liebevoll angenähert, du hast mir aber am Telefon auch gesagt,

00:07:19: dass es ein paar Vorurteile oder Stereotypen gab, die sich vielleicht auch geändert

00:07:24: haben in den letzten Jahren oder im Kontakt, dass du gewisse Bilder,

00:07:29: die du von Kirche hast, geändert hast.

00:07:31: Was wären so Bilder, die sich verändert haben?

00:07:33: Auf jeden Fall. Und ich würde ganz ehrlich sagen, dass Vorurteile ja nicht von

00:07:38: einem Moment auf den anderen komplett weggehen.

00:07:40: Ich bin sicher, dass ich da noch viele verinnerlicht habe.

00:07:43: Das läuft, glaube ich, zeitgleich.

00:07:46: Natürlich bin ich wie sehr viele Menschen aufgewachsen mit dem Bild,

00:07:50: dass Kirche altbacken ist und traditionell auf eine Weise, dass sie viele Menschen

00:07:56: auch nicht respektiert.

00:07:57: Und diese Wut oder dieser Frust hat sich dann auch intensiviert,

00:08:02: als ich mich selbst geoutet habe als bisexuell und um mich herum viele Menschen kennengelernt habe,

00:08:06: die von der Kirche sehr enttäuscht sind und ihr historisch gesehen Mitschuld

00:08:10: geben an vielen Formen von queerfeindlicher Gewalt,

00:08:13: was geschichtlich betrachtet natürlich auch zu einem Teil wahr ist.

00:08:17: Und dann war ich Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz und habe da

00:08:23: unter anderem an den zwei Abstimmungen mitgearbeitet über die Ehe für alle und

00:08:28: über den Diskriminierungsschutz und bin dort mit meinen eigenen Vorurteilen konfrontiert worden,

00:08:36: weil viele VertreterInnen der Kirche mit uns auf unserer Seite gekämpft haben.

00:08:42: Ich habe da also erstmals das wahrgenommen, was ich für die queere Community

00:08:48: immer einfordere, nämlich die Erkenntnis, dass es nicht einfach eine homogene

00:08:54: Gemeinschaft ist, sondern aus sehr vielen verschiedenen Menschen besteht,

00:08:57: die unterschiedliche Werthaltungen gegen aussen und gegen innen tragen.

00:09:03: So habe ich einige meiner Vorurteile langsam abbauen können, mit grosser Freude.

00:09:10: Birgt aber natürlich auch Widersprüche. Das heisst, ich muss auch anerkennen,

00:09:14: dass die Kirche eben nicht ein Monolith ist, dass die Kirche eben nicht aus

00:09:18: einer Werthaltung, sondern ganz unterschiedlich und entsprechend,

00:09:23: einer komplexen Vielfalt von Haltungen besteht.

00:09:27: Das ist ja sicher auch eine Herausforderung, die eigentlich die queere Community

00:09:31: und die Kirche irgendwie teilen.

00:09:33: Ich bin ja quasi als queerer Mensch in der Kirche unterwegs und als kirchlicher

00:09:38: Mensch in der queeren Community.

00:09:40: Und ich erlebe in beiden Communities oder in beiden Gemeinschaften immer wieder

00:09:44: Momente, wo ich merke, ah, da gab es jetzt ein Vorurteil gegenüber mir aufgrund

00:09:48: von meiner anderen Zugehörigkeit.

00:09:49: Und ich bin in der glücklichen Situation, dass ich eben eigentlich in der Kirche

00:09:54: immer weniger komische Blicke bekommen habe, Dafür, dass ich queer bin,

00:09:57: als ich in einer queeren Community bekommen habe, dafür, dass ich Christ bin.

00:10:01: Und finde aber sehr schön, dass sich diese Communities annähern,

00:10:05: dass es eben Menschen gibt, die sich an beiden Orten engagieren und die so ein

00:10:09: Verständnis aufbauen und dass es Menschen wie dich gibt, die sagen,

00:10:12: hey, ich bin offen, ich höre zu, ich schaue hin und lasse mich immer wieder

00:10:17: überraschen davon, was eben auch anders ist als das, was mein Bild von Kirche ist.

00:10:23: Ich kriege ja tatsächlich öfters von queeren Menschen, die selbst christlich

00:10:27: sind, zu hören, dass sie innerhalb der queeren Community oft mit Vorurteilen konfrontiert werden.

00:10:35: Das tut mir leid zu hören, das wäre für mich bis dann unsichtbar,

00:10:38: weil es mich nicht betrifft.

00:10:40: Und ich glaube, es macht immer Sinn, in einer vielfältigen Gemeinschaft diese Vielfalt aufzuzeigen.

00:10:49: Und ich habe mich deshalb entschieden, immer mal wieder mit kirchlichen ExponentInnen

00:10:55: und Gemeinschaften zusammenzuarbeiten, weil ich glaube, dass das der Weg ist, um...

00:11:03: Queeren Menschen die Spaces, die Räume zu ermöglichen, in denen sie sich wohlfühlen.

00:11:09: Ich glaube nicht, dass die Lösung ist, dass queere Menschen,

00:11:12: die von der Kirche enttäuscht wurden, von ihrer Gemeinde enttäuscht wurden,

00:11:15: austreten und atheistisch weiterleben.

00:11:20: So wie mir das berichtet wird, führt das zu mehr Elend, nicht zu weniger.

00:11:26: Entsprechend versuche ich, meinen Beitrag zu leisten, dass Menschen,

00:11:30: die nicht der Geschlechtertradition entsprechen, weiterhin Räume finden innerhalb

00:11:34: der Kirche, in denen sie sich wohlfühlen.

00:11:37: Ich habe noch eine Frage zum Thema Kirche an dich. Und zwar,

00:11:39: gibt es für dich ein Highlight in der Zusammenarbeit mit Kirche,

00:11:43: so irgendwie ein besonders toller Moment?

00:11:45: Ich durfte schon mehrmals Predigten halten.

00:11:51: Und das ist schon nicht nur als Aktivität sehr schön, sondern das Vertrauen,

00:11:58: das mir damit gegeben wird.

00:11:59: Und die Menschen, die mir dann zuhören, die eben sonst mehr mit Kirche und weniger

00:12:04: mit Queers zu tun haben, das ist jedes Mal sehr berührend.

00:12:10: Und es ist jedes Mal wieder eine Konfrontation mit einer Welt,

00:12:15: mit der ich wirklich nicht vertraut bin. Mit Predigten.

00:12:19: Jedenfalls nicht mit Predigten, die auch tatsächlich so genannt werden.

00:12:23: Eigentlich gibt es ja auch viele politische Reden, die ein bisschen predigt

00:12:27: sind. Und einige Predigten, die auch politische Reden sind.

00:12:32: Da überschneidet sich das Ganze immer wieder, denke ich. Unsere Grundfrage heute

00:12:37: ist, wieso wir uns überlegen,

00:12:41: als Gesellschaft mit queeren Themen auseinandersetzen sollten.

00:12:44: Und du hast im Vorgespräch sogar gesagt, dass du glaubst, dass nicht nur queere

00:12:49: Menschen davon profitieren, wenn wir über LGBTIQ-Themen sprechen und Aufklärung machen.

00:12:56: Was meinst du damit? Was bringt es unserer Gesellschaft, dass wir dem Thema Raum geben?

00:13:00: Ich glaube tatsächlich nicht, dass nur queere Menschen davon profitieren,

00:13:05: weil es hier um eine wunderschöne und wichtige Frage geht, nämlich, wer bin ich,

00:13:12: wer sind meine Mitmenschen, wie empfinden wir Identität und Anziehung.

00:13:17: Das sind Fragen, die sich jeder Mensch stellen sollte und die Antworten zeigen

00:13:23: oftmals auf, dass Menschen sehr viel vielfältiger sind, wie wir uns es oft vorstellen.

00:13:29: Ich glaube, dass es für jede Person gesund ist, sich mit der eigenen Anziehung auseinanderzusetzen.

00:13:34: Zu wem fühle ich mich, auf welche Arten hingezogen? Wie unterscheiden sich diese

00:13:39: Formen von Anziehung? Welche Worte wähle ich dafür?

00:13:43: Und wie ordne ich diese Anziehung ein innerhalb von dem, was als normal gilt

00:13:48: und was als abnormal gilt?

00:13:50: Und diese Fragen, die betreffen eben nicht nur queere Menschen.

00:13:54: Diese Fragen kann sich jeder Mensch stellen und führen letztendlich dazu,

00:13:59: dass wir als Gemeinschaft besser, empathischer und liebevoller miteinander funktionieren

00:14:04: können. Denn Anziehung ist ja nicht nur rein sexuell oder auch nur rein romantisch.

00:14:09: Anziehung heisst ja auch, mit wem möchte ich zusammenarbeiten,

00:14:13: mit wem möchte ich mich verbünden, mit wem möchte ich befreundet sein, wer interessiert mich.

00:14:19: Es gibt so viele Formen von Anziehung. Und es ist in meinen Augen ein komplett

00:14:23: unterschätztes und doch eigentlich so spannendes Thema.

00:14:27: Wie würdest du denn sagen, wie sollen wir an das Thema herangehen?

00:14:30: Wie kann man sich mit dem Thema Anziehung beschäftigen als Person,

00:14:35: egal ob queer oder nicht?

00:14:38: Ich glaube, dass es tatsächlich gar nicht so ein schlechter Anfang ist,

00:14:41: sich mit queeren Themenfeldern an das Thema Anziehung anzunähern,

00:14:48: weil es eben gerade queere Menschen sind, die darüber reflektieren.

00:14:52: Auch feministische Literatur hat mir sehr geholfen, mehr über Anziehung nachdenken

00:14:57: zu können, mehr darüber zu lernen.

00:15:00: Bücher wie «Radikale Zärtlichkeit» von Jada Kurt zum Beispiel.

00:15:04: Ein Themenfeld, das mir wahnsinnig viel beigebracht hat, ist das Themenfeld

00:15:09: der Asexualität und Aromantik.

00:15:12: Das sind zwei Spektren, auf denen ich mich nicht verorte und genau deshalb,

00:15:17: weil sie dieser Annahme, dass wir alle sexuelle Anziehung und romantische Anziehung

00:15:22: empfinden, nicht entsprechen, zeigen sie auf,

00:15:25: wo unsere traditionellen Sichtweisen eigentlich liegen und welche selbstverständliche

00:15:30: Annahmen wir treffen darüber,

00:15:33: wer welche Anziehung trifft.

00:15:36: Das finde ich zwei Themenfelder, die

00:15:37: sich sehr gut eignen, um diese ganzen Normalitäten mal zu hinterfragen.

00:15:42: Die Normalitäten geben uns aber auch Halt. Es gibt die Angst,

00:15:45: dass man mit Gender-Ideologie, Frühsexualisierung von Kindern,

00:15:49: den gesellschaftlichen Kitt auflöst und das, was unsere Gesellschaft Halt gibt,

00:15:53: diese Struktur. Wie stehst du zu dieser Aussage oder zu diesen Ängsten?

00:15:56: Wie reagierst du darauf, wenn du damit konfrontiert bist?

00:16:00: Das mit der Frühsexualisierung ist ein sehr verbreitetes und manchmal auch bewusst

00:16:06: verbreitetes Missverständnis.

00:16:08: Es geht beim Thema Anziehung erstmal überhaupt nicht nur um Sexualität.

00:16:12: Und beim Thema Sexualität geht es ja auch bei weitem nicht nur um Sex.

00:16:16: Es geht ja eben darum, in wen wir uns verlieben, zu wem wir uns hingezogen fühlen,

00:16:20: eben nicht nur auf romantische und sexuelle Weise.

00:16:23: Die Sexualisierung, die kommt eigentlich aus diesem Vorwurf heraus.

00:16:27: Ich und viele queere AktivistInnen, die meisten sprechen sich eher dafür aus,

00:16:33: dass kein Mensch sexuell sein muss, sondern es geht um Selbstbestimmung.

00:16:39: Es geht darum, dass jeder Mensch sich selbst sein darf.

00:16:44: Beispielsweise, in wen er sich verliebt. Mir geht es in meinem privaten Fall

00:16:49: darum, dass ich mit meiner Partnerin zusammenleben darf und die gleichen Rechte

00:16:53: habe wie alle anderen auch.

00:16:56: Das hat unglaublich wenig mit Sex zu tun. Es hat interessanterweise erst dann

00:16:59: mit Sex zu tun, wenn Leute uns mit diesem Vorwurf konfrontieren.

00:17:03: Und dass da Kinder ins Spiel gebracht werden, wird natürlich sehr oft als Argument

00:17:09: verwendet, um Leute gegen uns aufzubringen.

00:17:13: Und es wird verwendet, weil, glaube ich, nicht klar ist, dass es auch darum

00:17:18: geht, Kindern Selbstbestimmung beizubringen. Selbstbestimmung über ihre eigene

00:17:22: Identität und Selbstbestimmung, wer ihnen nahe kommen darf und wer nicht.

00:17:26: Das ist ein unglaublich wichtiges Thema, das eigentlich kein queeres Thema ist,

00:17:31: sondern ein allgemeines Thema, das wir uns als Gesellschaft zu Herzen nehmen müssen.

00:17:37: Es ist eigentlich interessant, dass so Consent und Selbstbestimmung den Körper

00:17:41: selber steuern, wer den anfasst.

00:17:43: Ich glaube, das sind Themen, die in unserer Community sehr stark diskutiert

00:17:47: werden und von denen ich zum Beispiel und auch mein Neffe jetzt in einem konkreten

00:17:51: Fall sehr profitiert haben.

00:17:52: Der ist neun Jahre alt, der hat noch gar nichts mit Sexualität am Hut,

00:17:57: aber er umarmt nicht gerne andere Menschen.

00:18:00: In unserer Familie und in der erweiterten Verwandtschaft ist es aber ziemlich

00:18:04: normal, dass man sich zum Hallo sagen umarmt oder zum Danke sagen.

00:18:08: Und ich habe gemerkt, der macht das einfach nicht gerne und das ist doch ein

00:18:11: Thema, das ich eben aus der Community kenne.

00:18:13: Dann habe ich meinem neunjährigen Neffen gesagt, du, ich habe dich total gerne

00:18:17: und ich umarme dich gerne, aber nur, wenn du mich auch umarmen willst.

00:18:21: Ich will, dass du mir genauso Hallo sagst, wie es für dich stimmt und wie du dich wohlfühlst.

00:18:26: Und seither gibt es eigentlich immer im Rahmen unserer Begegnung eine Umarmung,

00:18:31: meistens am Schluss und die kommt immer von Herzen.

00:18:35: Und ich finde das total schön, dass er für sich wirklich...

00:18:38: Gelernt hat, mir die Hand hinzustrecken, wenn er gerade eben nicht eine Umarmung

00:18:42: will, wenn er diese Nähe gerade nicht brauchen kann.

00:18:44: Und darum denke ich, genau wie du sagst, wir können von diesen Diskursen in

00:18:48: anderen Bereichen auch profitieren.

00:18:50: Das ist eine sehr, sehr schöne Geschichte und sie zeigt auch auf,

00:18:54: dass viele vermeintlich queere Forderungen eigentlich die ganze Gesellschaft betreffen.

00:19:00: Ich glaube, das, was viele Menschen irritiert an LGBTI-Menschen und unseren

00:19:07: Forderungen ist, dass wir damit sehr viele Tabus aufbrechen,

00:19:11: nämlich über Themen wie Anziehung sprechen.

00:19:14: Nicht Anziehung für alle, unter allen fordern, sondern darüber sprechen,

00:19:19: dass sie überhaupt existiert und so Normen hinterfragen, wie jetzt das Beispiel

00:19:24: mit den Umarmungen, die ganz üblich sind, anstatt dass wir anerkennen,

00:19:29: dass da Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind.

00:19:31: Du hast vorhin gesagt, dass oft auch wir queeren Menschen ziemlich stark sexualisiert

00:19:35: werden von der Gesellschaft und es zeigt sich aus meiner Sicht auch in den Medien.

00:19:39: Zum Beispiel, ich weiß nicht, ob du die Serie Love, Simon kennst und ich meine,

00:19:44: da ging es ja eigentlich, die erste Staffel war noch okay, da geht es um sein

00:19:47: Coming Out und seine Selbsterkenntnis und in der zweiten Staffel geht es fast

00:19:51: nur noch darum, dass er und sein Freund Sex haben.

00:19:54: Das hat mich total gestört, weil die Realität von queeren Menschen ist ja überhaupt

00:19:59: nicht, dass unser Alltag sich nur um Sex dreht, sondern es gibt ganz viele andere Sachen.

00:20:04: Und das heißt ja gar nicht, dass es schlimm ist, wenn man viel Sex hat oder

00:20:08: mit vielen verschiedenen Menschen Sex hat. Um diese Wertung geht es mir auch nicht, aber...

00:20:13: Ich habe das Gefühl, dass die Leute uns oft ein bisschen darauf reduzieren,

00:20:16: dass es sich um das Thema Sex dreht.

00:20:20: Wie nimmst du das wahr? Auch vielleicht in dem, wie Interviews geführt werden

00:20:23: mit dir oder Menschen auf dich zukommen im Alltag?

00:20:26: Ja, auf jeden Fall. Und das zeigt

00:20:28: sich eigentlich bei so gut wie jeder Ausprägung von queerer Identität.

00:20:33: Also sei es bei schwulen Männern, sei es bei lesbischen Frauen,

00:20:38: sei es bei Transmenschen oder auch bei bisexuellen Menschen wie mir.

00:20:42: Viele erste Assoziationen und Fragen drehen sich um das Sexleben und es sind

00:20:49: Fragen in einem Mass von Intimität, wie ich Menschen, die nicht queer sind,

00:20:54: niemals begegnen würde.

00:20:56: Nicht, dass es mich nicht wundert nehmen würde, vielleicht ist es auch mal der

00:20:59: Fall, aber es ist halt einfach nicht anständig und nicht freundlich.

00:21:03: Ich glaube, diese Sexualisierung kommt schon sehr stark von aussen.

00:21:08: Ich erinnere mich, dass eines der ersten Porträts, das über mich geschrieben

00:21:11: wurde, als ich Geschäftsleiterin der Lesbenorganisation wurde,

00:21:15: diesen Fehler genau auch gemacht hat.

00:21:16: Also der Text, den durfte ich gegenlesen und der war prima.

00:21:20: Und es ging kurz auch darum, dass ich als bisexuelle Frau sehr wohl auch Geschäftsführerin

00:21:25: der sogenannten Lesbenorganisation sein kann. Das ist mir auch wichtig.

00:21:30: Und der Titel wurde noch nicht von der Journalistin selbst gesetzt,

00:21:34: sondern von irgendwem in der Redaktion.

00:21:35: Und der Titel, der hiess dann einfach «Nach Feierabend schläft sie auch mit Männern».

00:21:41: Im Text ging es überhaupt nicht darum, was ich nach Feierabend mache.

00:21:45: Im Gegenteil, es stand sogar, dass ich in einer Beziehung bin mit einer Frau.

00:21:49: Derselben Frau, mit der ich immer noch in einer Beziehung bin.

00:21:51: Das ist sieben Jahre her, diese ganze Sache.

00:21:53: Aber da gab es das Bedürfnis, meine sexuelle Orientierung zu einem sexuellen Thema zu machen.

00:22:03: Ohne mein Einverständnis. Ich bin nicht zu diesem Interview hingegangen und

00:22:07: habe über mein Sexleben geredet.

00:22:08: Das mache ich nicht in der Öffentlichkeit. Ich habe auch kein Interesse daran.

00:22:12: Das ist meine Privatsache.

00:22:14: Das ist tatsächlich etwas, was immer wieder von aussen kommt.

00:22:17: Und das Paradoxe daran ist ja, indem wir uns dagegen verteidigen,

00:22:24: greifen wir die Sexualisierung wieder auf.

00:22:26: Wir kommen gar nicht drum herum. Und das ist ein Aspekt, wo uns wieder diese

00:22:30: Selbstbestimmung weggenommen wird.

00:22:32: Ich konnte nie selbst bestimmen, wie viel ich über meine Sexualität rede,

00:22:36: weil ich zumindest Vorwürfe darüber abweisen muss.

00:22:42: Es ist ja eigentlich wirklich absurd, dass man durch diesen Vorwurf gerade selber da reingebracht wird.

00:22:50: Du hast erwähnt, dass eben Menschen oft, wenn sie queere Menschen kennenlernen,

00:22:54: so mit sexuellen Fragen auch kommen.

00:22:57: Und ich glaube, wir beide sind

00:22:59: neugierige Menschen. Mich persönlich interessieren solche Themen enorm.

00:23:03: Aber ich reiße mich zusammen und frage eben nicht, wenn ich eine Person nicht gut kenne.

00:23:08: Und es ist mega schön, wenn Leute Interesse haben an queeren Lebensrealitäten.

00:23:13: Aber es gibt teilweise ein bisschen schwierigen Umgang damit,

00:23:16: wenn dann die Leute einen so behandeln, als ob man Google wäre.

00:23:19: Und was würdest du dir wünschen von Menschen, die nicht queer sind,

00:23:23: wenn sie in Kontakt mit dir kommen?

00:23:25: Oder was glaubst du auch, was würde der Community helfen?

00:23:28: Was braucht die Community von Allies, von Menschen, die selbst nicht queer sind,

00:23:31: aber sich für uns interessieren?

00:23:33: Also diese Neugierde, die ist ja ein riesiges Geschenk und zum Glück gibt es

00:23:37: ganz viele verschiedene Quellen, wo man diese Neugierde stillen kann,

00:23:40: bis ins hinterletzte Detail.

00:23:42: So viele Videos und Podcasts und Bücher und Dokumentationen,

00:23:46: egal in welche Richtung die Neugierde geht, es gibt gute, solide Wege, sie zu stillen.

00:23:53: Und wenn es dann tatsächlich mal um die Neugierde geht gegenüber eines Mitmenschen.

00:23:57: Dann finde ich es gar nicht so schlecht, mal eine Frage zu stellen wie,

00:24:01: wie gerne redest du über deine queere Identität?

00:24:04: Ich wäre mega neugierig, aber wie wohl ist dir mit dem Thema?

00:24:07: Und dann kann die andere Person auch immer sagen, nein, lieber nicht.

00:24:12: Oder aber merci fürs Fragen, ja, stell mal.

00:24:15: Du zeigst dem Gegenüber damit auch, dass es nicht selbstverständlich ist, dass du es ausfragst.

00:24:22: Über diesen Aspekt ihrer Identität.

00:24:25: Das erinnert mich an eine Situation, die ich in der Armee erlebt habe.

00:24:28: Ein Kamerad von mir wusste, dass ich trans bin. Er hat mich aber nie darauf

00:24:32: angesprochen, bis wir zu zweit unterwegs waren auf einem Orientierungslauf.

00:24:36: Und dann hat er gesagt, du, wann ist für dich ein guter Moment,

00:24:39: um über deine Geschlechtsidentität zu sprechen?

00:24:42: Das hat mir so gut getan, weil ich wusste die ganze Zeit, als ich da war,

00:24:45: nicht, wie soll ich mit dem Thema umgehen?

00:24:47: Darf ich es ansprechen? Ist es eher nicht erwünscht oder kommt das komisch an?

00:24:51: Und dadurch, dass er gefragt hat, hatte ich wie so auch diesen Moment,

00:24:55: wo ich gemerkt habe, ah, ich darf darüber reden.

00:24:57: Und das war das erste Mal in der Armee, wo ich in Ruhe duschen konnte,

00:25:00: als ich dann mit ihm in der Dusche stand, weil ja ein Duschen für mich einfach

00:25:04: ein Coming Out ist, weil mein Körper halt mich outet.

00:25:06: Und ja nicht geoutet war, aber dadurch, dass wir dann darüber gesprochen hatten,

00:25:10: wurde das total entspannt und wir haben in aller Ruhe im gleichen Raum geduscht und es war okay.

00:25:15: Es hat mich so berührt, dass er eben diese Frage gestellt hat, wann ist es gut für dich?

00:25:20: Und nicht, ich hätte jetzt gerade Interesse und ich frage jetzt alle tausend

00:25:24: Fragen, die sind ja alle legitim grundsätzlich, aber die Art und Weise und der

00:25:28: Moment kann manchmal ein bisschen schwierig sein. Er hat dir damit...

00:25:33: Selbstbestimmung zurückgegeben über das Thema. Das hat er mega gut gemacht.

00:25:37: Das ist eigentlich eine Gabe, die man sicher haben sollte, wenn man mit Menschen

00:25:40: zu tun hat, Gesprächsbereich.

00:25:42: Und ich wünschte sie mir auch ein bisschen mehr allgemein in unserer Gesellschaft,

00:25:45: dass wir uns überlegen vielleicht, was löst diese Frage, die ich jetzt gerade

00:25:49: stelle, bei meinem Gegenüber aus?

00:25:51: Oder dass man auch offen ist, sich korrigieren zu lassen. Ich weiß nicht,

00:25:54: wie du das erlebst, wenn du jemandem sagst, hey, ich mag gerade nicht über die

00:25:57: Frage sprechen. Was sind da so Reaktionen, die kommen?

00:26:00: Also die Reaktion, die ich mir wünsche, kommt eigentlich ziemlich selten,

00:26:03: nämlich danke, dass du mir das sagst.

00:26:06: Also wenn ich in irgendeiner Form abgewiesen werde, wenn mir irgendwer die Grenzen

00:26:09: aufzeigt und sagt, hey, darüber mag ich jetzt echt nicht reden,

00:26:12: dann ist meine Standardantwort danke, dass du mir das sagst,

00:26:15: weil es ja irgendwie auch etwas braucht, um diese Grenze zu setzen.

00:26:19: Leute fangen viel eher an, sich zu verteidigen und zu erklären,

00:26:23: wie sie dazu gekommen sind, mir diese Fragen zu stellen.

00:26:26: Und ich verstehe das, diesen Impuls habe ich auch, wenn mir jemand sagt,

00:26:29: dass ich gerade zu weit gegangen bin.

00:26:31: Aber es geht dann darum, um eben nicht diesem Impuls zu folgen,

00:26:34: sondern erstmal Dankbarkeit zu verspüren für die Grenze, die in einem gesetzt wurde.

00:26:38: Ich glaube, was wir in all diesen Gesprächen viel zu wenig machen,

00:26:41: auch wenn wir sehr neugierig sind und nicht sicher sind, ob wir jetzt da wahnsinnig

00:26:46: neugierige Fragen stellen dürfen, ist unsere eigene Überforderung als solche erkennen und benennen.

00:26:53: Eben mit zu sagen, du, ich bin gerade überfordert damit, ob ich dir überhaupt

00:26:56: Fragen dazu stellen darf oder nicht, das macht mich fast ein bisschen nervös.

00:26:59: Ich habe das bei vielen Themen, Bei Themen, die mich zwar wundern nehmen,

00:27:03: aber in denen ich nicht sattelfest bin. Zum Beispiel beim Thema Behinderung habe ich das.

00:27:07: Und je mehr ich versuche, mich selbst zurückzunehmen, desto mehr schränke ich

00:27:12: mich in meiner Neugierde ein.

00:27:14: Das heisst, ich kann meinem Gegenüber auch einfach sagen, dass ich gerade überfordert

00:27:20: bin und dann nachfragen, was wir damit anstellen.

00:27:24: Diese Begriffe Überforderung, Neugier und Überforderung und Ablehnung,

00:27:29: die haben in unserem Vorgespräch auch eine Rolle gespielt, werden gleich noch

00:27:32: genauer darauf eingehen.

00:27:33: Ich erlebe auch, dass Überforderung zu Sprachlosigkeit führt,

00:27:37: dass Menschen sich gar nicht erst trauen, eine Frage zu stellen oder irgendwas

00:27:42: zu sagen, weil sie das Gefühl haben, so oder so trete ich in den Fettnapf.

00:27:46: Was rätst du Menschen, die eben dieses Gefühl haben und dadurch ganz still werden?

00:27:50: Wie kann man da rauskommen? Ich kenne das Phänomen von mir selbst auch.

00:27:54: Und ich glaube, auch da kann es was bringen, zu benennen, was einem gerade aus der Ruhe bringt.

00:28:00: Zu benennen, ich bin mir nicht sicher, ob das das richtige Wort ist.

00:28:04: Aber, und es dann mal auf den Tisch zu legen und nachfragen und offen sein dafür.

00:28:10: Was das Gegenüber dann sagt oder halt korrigiert.

00:28:13: Und halt auch einfach neugierig sein und im richtigen Moment mal kurz in der

00:28:18: Suchmaschine die Begriffe eingeben, dann geht das mit der Zeit auch besser.

00:28:22: Ich bin sehr überzeugt davon, dass wir alle intuitiv unterscheiden können,

00:28:29: ob ein Mensch gerade etwas Falsches sagt und das mit besten Absichten macht

00:28:33: oder ob ein Mensch gerade etwas Falsches sagt und rücksichtslos und verletzend ist.

00:28:38: Wenn mein Mitmensch irgendeinen Begriff verwendet, der veraltet ist und dadurch

00:28:42: abwertend, dann spüre ich sehr genau, ob er gerade sein Bestes gibt oder ob

00:28:48: er gerade rücksichtslos ist.

00:28:50: Und wenn er gerade sein Bestes gibt, dann ist es ja auch voll nicht schlimm,

00:28:53: dass er gerade ein Wort verwendet hat, das er vielleicht nicht verwenden sollte.

00:28:58: Dann sage ich halt nicht, wie man es heute sagt und dann fahren wir weiter.

00:29:03: Und auch hier, ich glaube, es ist wesentlich in solchen Situationen Dankbarkeit

00:29:09: zu verspüren anstatt Scham.

00:29:11: Denn Scham macht uns still. Scham schränkt uns ein.

00:29:14: Hingegen dankbar zu sein dafür, dass wir dazulernen können, das macht auf.

00:29:19: Scham und Angst haben aus meiner Erfahrung auch manchmal einen Zusammenhang mit Wut.

00:29:23: Ein Format von dir heißt Hassig am Mittwoch, also für alle Deutschen wütend am Mittwoch.

00:29:28: Und ich frage mich persönlich immer wieder im Gespräch mit Menschen,

00:29:32: wie viel Wut braucht es und wie viel Verständnis braucht es,

00:29:35: weil ich das Gefühl habe, dass beides wertvoll ist.

00:29:37: Wir haben jetzt ganz viel über das Thema gesprochen, Verständnis zu haben und

00:29:40: du sprichst an, dass eigentlich nicht nur queere Menschen gegenüber nicht queeren

00:29:45: Menschen Verständnis und irgendwie Wohlwollen haben sollten.

00:29:48: Im Zuhören und eben mal davon ausgehen, dass die Person das nicht böse meint,

00:29:53: sondern es versucht, aber gleichzeitig auch,

00:29:56: Von nicht queeren Menschen gegenüber queeren Menschen. Also es geht in beide Richtungen.

00:30:00: Und gleichzeitig glaube ich auch, dass eben Wut auch eine Kraft hat und eine wichtige Kraft ist.

00:30:05: Aber die schwierige Frage ist, wie bringen wir das in ein gutes Gleichgewicht,

00:30:10: sodass wir nicht Menschen abschrecken, bevor sie überhaupt Fragen stellen können,

00:30:15: bevor wir mit ihnen in Beziehung treten können, aber gleichzeitig auch mal sagen

00:30:19: können, es geht jetzt einfach zu weit. Das ist nicht mehr okay.

00:30:23: Hast du für dich da eine Antwort? Wort? Mir hat es sehr geholfen,

00:30:28: zwei Dinge über Wut zu lernen.

00:30:31: Erstens, Wut an sich hat eine Aussagekraft. Dass ein Mensch wütend ist, hat eine Aussagekraft.

00:30:39: Unabhängig vom Inhalt, der auch freundlich gesagt werden kann,

00:30:43: ist es lohnenswert, sich zu fragen, woher kommt die Wut dieser Person oder die Wut von mir selber.

00:30:50: Und das Zweite ist, Wut als Gefühl ist dazu da, uns aufzuzeigen,

00:30:56: wann eine Grenze überschritten worden ist.

00:30:58: Diese Erkenntnis hat mir sehr geholfen, meine eigene Wut zu verstehen und die meiner Mitmenschen.

00:31:05: Wenn ich ein Wort falsch sage und mein Gegenüber wird wütend,

00:31:09: dann hat diese Wut nicht primär mit mir zu tun, sondern sie hat die Aussagekraft,

00:31:14: dass dieser Mensch schon ganz viel verletzt wurde innerhalb dieses Themenfelds.

00:31:18: Und wenn ich das erkenne, kann ich mehr Empathie gegenüber der Wut meines Mitmenschen aufbauen.

00:31:25: Das heisst nicht, dass ich mir alles gefallen lassen muss.

00:31:27: Das heisst, dass ich ein besseres Verständnis aufbauen kann gegenüber wütenden

00:31:31: Teilen von Dialogen und gegenüber meiner eigenen Wut.

00:31:36: Du stehst ja in der Öffentlichkeit auf vielfache Art und Weise,

00:31:40: wenn wir genau hinschauen,

00:31:41: eher neuer als Politikerin auf grosser Bühne, dann aber auch als Aktivistin,

00:31:46: als Autorin, als Kolumnen-Schreiberin, also so ein ganz breites Spektrum.

00:31:51: Heute warst du gerade in einer Hochschule und hast einen Vortrag gehalten.

00:31:55: Du wirst, da bin ich mir ziemlich sicher, oft auch mit dabei.

00:31:58: Aussagen konfrontiert, die vielleicht manchmal nicht böse gemeint sind,

00:32:02: aber verletzend, aber manchmal auch mit solchen, die wirklich gegen dich gemeint

00:32:07: sind, aufgrund von deinen jüdischen Wurzeln, aufgrund deiner Sexualität,

00:32:10: aufgrund dessen, dass du eine Frau bist und das einfach in unserer Gesellschaft

00:32:13: einen anderen Wert hat, eine Frau zu sein, als ein Mann zu sein.

00:32:16: Was tut denn dir gut darin? Wie kannst du immer wieder dorthin zurückkommen,

00:32:21: wo du, ich sag jetzt mal, konstruktiv mit der Wut umgehen kannst,

00:32:24: wo du nicht geleitet bist es einfach von der Aggression oder von.

00:32:29: Enttäuschung, sondern das brauchen kannst, um weiterzukommen.

00:32:33: Was mir sehr hilft bei dem Ganzen ist, zu verstehen, was abgeht.

00:32:37: Ich lese sehr gerne Bücher über genau all diese Phänomene, die wir selbst passieren.

00:32:44: Also nicht nur die unterschiedlichen Diskriminierungsformen,

00:32:47: sondern auch, was es heisst, in der Öffentlichkeit zu stehen oder Hassnachrichten

00:32:51: zu erhalten oder über Diskussionskulturen, psychologischen Aspekte von so etwas

00:32:56: wie wie Wut oder Ohnmacht.

00:32:58: Überhaupt zu verstehen, was

00:32:59: da um mich herum passiert, holt mich zu einem Teil aus der Ohnmacht raus.

00:33:03: Und dann braucht es auch einfach eine Resilienz, die nicht davon kommen kann,

00:33:10: dass ich mich jeden Tag kaputt arbeite.

00:33:12: Ich gehöre zu den Menschen, die das Privileg haben, überhaupt sich Freizeit leisten zu können.

00:33:18: Das können ganz viele Menschen nicht, unter anderem in der Schweiz.

00:33:21: Gleichzeitig leben wir in einer Kultur, die das Überarbeiten sehr glorifiziert. Das mache ich nicht.

00:33:26: Und um überhaupt resilient genug zu sein, damit umzugehen, wie die Öffentlichkeit

00:33:30: mit mir umspringt, muss ich Kraft tanken.

00:33:35: Diese Kraft kann ich nicht tanken, wenn ich mich jeden Tag selbst ausbeute.

00:33:39: Ich vermute mal, ich muss da auch Alternativen finden zur Spiritualität,

00:33:43: als Mensch, der selbst keine spirituellen Rituale kennt, noch nicht,

00:33:47: jedenfalls nicht für mein eigenes Leben.

00:33:49: Und dann sind das ganz viele Dinge, die sehr wenig vor Mikrofonen,

00:33:53: Kameras oder anderen Formen der Öffentlichkeiten stattfinden.

00:33:58: Dinge, die dann mir persönlich gut und Dinge, die vielleicht trivial erscheinen.

00:34:02: Und es sind sehr viele Freundschaften. In der Öffentlichkeit zu stehen,

00:34:06: kann immer wieder den Nachteil haben, dass es ein bisschen entmenschlichend ist.

00:34:11: Manchmal werde ich eher behandelt wie ein Pokémon, als wie ein Mensch.

00:34:17: Das tut mir nicht immer gut. Meistens tut es mir nicht gut.

00:34:20: Und dann tut es besonders gut, Zeit zu verbringen mit Menschen,

00:34:24: für die ich noch nie ein Pokémon war und für die ich es auch nie sein werde

00:34:27: und für die mein Vorname im Zusammenhang mit meinem Nachnamen kein Markenname

00:34:32: ist, sondern einfach mein Name.

00:34:34: Das ist unglaublich wichtig in meinem Alltag.

00:34:36: Du hast vorhin das Thema Überforderung, Ablehnung und Überforderung und Neugier

00:34:43: erwähnt. Und ich fand das so schön, als du das am Telefon gesagt hast.

00:34:46: Und das begleitet mich seither diese Aussagen immer wieder und ich erwähne es

00:34:50: immer wieder in Gesprächen.

00:34:51: Darum will ich, dass alle Zuhörenden das auch nochmal hören.

00:34:54: Und zwar ging es darum, ich habe dich gefragt, wann müssen wir nicht mehr über

00:34:58: queere Themen sprechen?

00:34:59: Und dann hast du eben gesagt, dass du gar nicht glaubst, dass es darum geht,

00:35:03: dass wir nicht mehr darüber sprechen müssen, sondern dass sich etwas verändert

00:35:05: darin, wie wir es machen.

00:35:07: Grundsätzlich glaube ich, ist schon mal nicht das Ziel, nicht mehr über queere

00:35:10: Themen zu sprechen, weil queere Themen etwas sehr Schönes sind.

00:35:13: Das geht manchmal vergessen.

00:35:15: Ich will für immer über queere Themen sprechen, weil es mich sehr glücklich

00:35:18: macht, queer zu sein. Und das andere ist, das, was sich verändern soll,

00:35:22: ist nicht, dass wir nicht mehr über queere Themen sprechen müssen,

00:35:25: sondern wie wir mit unserer Überforderung umgehen.

00:35:27: Es wird ja oft diskutiert, ob queer sein eine Entscheidung ist oder nicht.

00:35:32: Und ich glaube, die eigentliche Entscheidung ist die, bin ich von einem Phänomen

00:35:37: überfordert und lehne es deshalb ab oder bin ich von einem Phänomen überfordert

00:35:42: und begegne dieser Überforderung mit Neugierde,

00:35:45: vielleicht sogar mit liebevoller Neugierde. Vielleicht auch mit irritierter Neugierde.

00:35:49: Aber nehme ich es an mit Offenheit oder lehne ich es ab?

00:35:53: Und das ist eine Entscheidung.

00:35:55: Wir entscheiden nicht, ob uns etwas überfordert. Wenn etwas neu ist,

00:36:00: wie zum Beispiel, dass sich ein Mitmensch outet, dann kann das schon mal etwas

00:36:04: bei uns durcheinander bringen.

00:36:06: Was wir dann machen in diesem Durcheinanderzustand, das ist das, was zählt.

00:36:09: Und ich glaube, wir alle können die Entscheidung treffen, uns zu informieren

00:36:13: und offen zu sein für die Möglichkeit, dass wir dazulernen.

00:36:18: Ich glaube, das zeigen ja auch viele Geschichten von gerade älteren Menschen,

00:36:21: die in einer anderen gesellschaftlichen Zusammensetzung aufgewachsen sind.

00:36:25: Mein Großvater hat mir mal erzählt, das erste Mal habe er ein Transvestit gesehen,

00:36:31: hier in Zürich im Niederdörfli.

00:36:33: Für ihn als jungen Erwachsenen, Mann, das wäre ein Erlebnis gewesen.

00:36:38: Und wenn ich mir denke, dass mein Großvater heute ganz klar für die Ehe für

00:36:44: alle abgestimmt hat und sogar gegen die AHV-Reform,

00:36:48: weil er gesagt hat, es ist wichtig, dass wir nicht queeren Menschen diesen Weg versperren,

00:36:53: dass sie irgendwann heiraten können.

00:36:55: Obwohl er ganz persönlich von dieser Ehestrafe betroffen ist.

00:37:00: Und ich glaube, solche Geschichten zeigen eben, wie du sagst,

00:37:03: man kann entscheiden, wie geht man damit um und man kann auch vielleicht Wege

00:37:07: machen, ohne dass es jetzt per se zwingend ist.

00:37:10: Und ich finde da aber auch eine schwierige Frage persönlich.

00:37:13: Kann man bei einer queerfeindlichen oder queerablehnenden Haltung mit gutem

00:37:18: Gewissen bleiben? Ich bringe ein ganz konkretes Beispiel.

00:37:21: Ich habe mit einem Pastor zu tun, den ich schätze, mit dem ich spannende Gespräche

00:37:25: habe und der kommt aus einer Kirche, wo ganz klar gesagt wird,

00:37:29: Homosexualität ist Sünde.

00:37:30: Das ist einfach so. Und er hat mich dann aber gefragt, hey, gibt es irgendeine

00:37:34: Möglichkeit, dass wir bei der Haltung bleiben, dass das Sünde ist und dass man

00:37:38: das nicht leben darf und trotzdem wirklich glaubwürdig und ernsthaft liebevoller

00:37:43: mit queeren Menschen umgehen können.

00:37:45: Und in mir drin hat alles geschrien, zu der Frage kann ich nur ein Nein antworten

00:37:50: und gleichzeitig habe ich gemerkt,

00:37:51: dass die Frage aus einer guten Intention herauskommt und eigentlich wirklich

00:37:54: aus dem Willen, ich will gut mit queeren Menschen umgehen und ich wie gemerkt

00:37:59: habe, wenn ich jetzt einfach Nein sage,

00:38:00: dann eis ich nur Brücken ab und es bringt auch nichts.

00:38:03: Und ich finde wie keine richtige Antwort auf diese Frage. Muss diese Gemeinde

00:38:07: ihre Meinung ändern zu queeren Themen, weil sonst ist sie einfach eine schlechte

00:38:11: Gemeinde sozusagen. Das ist eine komplexe Frage.

00:38:15: Was wir festhalten können, ist das direkte Resultat, wenn eine Gemeinde an sich

00:38:22: queerfeindlich bleibt.

00:38:23: Das direkte Resultat ist, dass queere Menschen sich dort nicht wohlfühlen,

00:38:29: dass sie entweder aus der Gemeinde austreten oder in der Gemeinde bleiben und sehr unglücklich sind.

00:38:35: Dieses Unglücklichsein, das hat Zahlen, das hat Statistiken.

00:38:40: Dieses Unglücklichsein äussert sich teilweise in Suizidraten und in Depressionsraten.

00:38:46: Das zu unterschätzen und dem nicht entgegenwirken zu wollen.

00:38:52: Ich kann mir nicht vorstellen, dass das christlichen Werten tatsächlich entspricht.

00:38:56: Das finde ich eine wichtige Grundlage, wenn wir über diese komplexe Frage reden.

00:39:00: Queer-Feindlichkeit, und sei es nur eine Haltung, nicht ein Gewaltakt mit physischer

00:39:06: Gewalt, Queerfeindlichkeit hat direkte Folgen jeden Tag auf Menschenleben. Das ist die Basis.

00:39:14: Und dann können wir uns fragen, welche Formen das ein respektvolles Miteinander annehmen kann.

00:39:21: Ich glaube nicht, dass ein respektvolles Miteinander ist, ein Leben lang bei

00:39:27: der Haltung zu bleiben, dass Homosexualität Sünde ist.

00:39:29: Ich glaube, ein respektvolles Miteinander kann sein, zu akzeptieren,

00:39:33: dass es ein langer Prozess sein kann, dann das aufzuweichen,

00:39:37: diese Haltung aufzuweichen.

00:39:39: Veränderung passiert nicht von heute auf morgen. Und ich glaube,

00:39:42: wir müssen allen Menschen die Zeit geben, ihre Haltungen aufzuweichen.

00:39:49: Und wie ist es in dir weitergegangen nach diesem ersten Nein, das du gespürt hast?

00:39:56: Ich habe geantwortet, dass ich darauf nicht antworten kann, so unmittelbar aus

00:40:01: dem Nichts, dass ich mir Gedanken machen muss und ich nicht weiß,

00:40:03: ob ich jemals eine Antwort darauf finde.

00:40:06: Und es bleibt nach wie vor, genau wie du sagst, ich habe diese Zahlen im Kopf,

00:40:11: ich weiß, welche Menschen zu mir in die Seelsorge kommen, was mir Menschen erzählen,

00:40:15: was für Leiden sie haben.

00:40:16: Gerade heute hat mir ein guter Freund erzählt, dass er nicht mehr gläubig ist

00:40:21: und ich weiß, was er mit Kirche erlebt hat und ich weiß, dass das ein großer

00:40:24: Teil davon ist, dass er diesen Glauben jetzt nicht mehr leben kann oder will.

00:40:28: Und auf der anderen Seite habe ich diesen befreundeten Pastor im Kopf,

00:40:33: den ich sehr schätze und von dem ich spüre, wie ernst es ihm ist und wie liebevoll

00:40:40: er mit Menschen umgeht und auch

00:40:41: mit queeren Menschen und da auch keinen Unterschied macht grundsätzlich.

00:40:44: Und ich komme wie nicht klar damit.

00:40:47: Ich finde keine Lösung, weil ich wie zwei Herzen in meiner Brust habe.

00:40:51: Und dann kommt noch dazu, dass ich theologisch klar die Haltung vertrete,

00:40:55: ich glaube Gott hat queere Menschen queer erschaffen und ich kann nicht glauben,

00:41:00: dass Gott was Schlechtes erschafft so grundsätzlich.

00:41:02: Und ich meine klar gibt es Menschen, die treffen schlechte Entscheidungen,

00:41:05: die verletzen Menschen auf allen Ebenen, die es gibt. Das ist für mich aber was anderes.

00:41:10: Ich glaube wirklich, dass queer sein, wie du sagst, was Schönes ist.

00:41:12: Ich glaube, es ist eine große Vielfalt.

00:41:14: Die Gott erschaffen hat oder die irgendwie entstanden ist auf dieser Welt,

00:41:18: die uns einfach glücklich machen kann, so wie es ganz viele Vielfalten gibt,

00:41:22: auch in anderen Bereichen.

00:41:23: Also ich glaube, mit der Frage werde ich noch länger schwanger sein,

00:41:26: aber ich bin sehr dankbar für deine Aussage, weil ich glaube wirklich,

00:41:29: dieses Bewusstsein, was es bedeutet für Menschen.

00:41:31: Dass wir ablehnend sind in unserer Gesellschaft, dass Transmenschen zum Beispiel

00:41:35: nicht geschützt sind durch den Diskriminierungsschutz,

00:41:38: dass intergeschlechtliche Menschen nicht geschützt sind vor Operationen,

00:41:43: die gar nicht medizinisch notwendig sind,

00:41:45: dass homosexuelle Menschen immer noch Diskriminierung erfahren,

00:41:49: weniger befördert werden, weil sie sich weniger gut zeigen können in ihrer Person bei der Arbeit.

00:41:54: Das sind alles Faktoren, die total wichtig sind und die wir nicht kleinreden dürfen,

00:41:59: genau bei anderen Themen wie Beeinträchtigungen oder Hautfarbe,

00:42:03: wo Menschen einfach Nachteile und physischen und psychischen Schaden haben,

00:42:07: aufgrund von dem, wie wir in der Gesellschaft damit umgehen.

00:42:10: Du hast mehrfach erwähnt und ich jetzt gerade auch, dass Queer sein was Schönes ist.

00:42:14: Was würdest du sagen, ist das Schönste daran, queer zu sein für dich persönlich?

00:42:19: Ich von mir selbst kann erstens sagen, dass ich sehr glücklich verliebt bin seit sieben Jahren.

00:42:25: Es ist etwas vom Schönsten, was mir je passiert ist.

00:42:27: Und es ist wahnsinnig schön, Teil einer Gemeinschaft zu sein,

00:42:32: wo wir alle uns selbst sein können. Das ist ein Mass an Freiheit,

00:42:36: das ich mich nicht mal zu wünschen getraut habe davor.

00:42:41: Und ich glaube nicht, dass diese Freiheit nur der queeren Gemeinschaft vorbehalten ist.

00:42:46: Ich glaube, das können alle Gemeinschaften erreichen und bedeuten für die Menschen,

00:42:51: die in ihnen drin sind. Was ist es für dich?

00:42:54: Ich glaube, es ist wirklich auch das. Ich durfte mich in den letzten Jahren,

00:42:58: ich habe mich 2015 vor neun Jahren geoutet und ich durfte so viel dazulernen,

00:43:03: wer ich bin und wer ich sein kann.

00:43:06: Also ich weiß noch anfangs, als sehr stark auch hinterfragt wurde von gewissen

00:43:10: Menschen, ob mein Transsein, also mein Mannsein wirklich ernst ist und ob ich

00:43:13: wirklich Mann bin und habe ich mich total maskulin sieben Tage in der Woche

00:43:16: Sport gemacht und pink nicht mal von Weitem angeschaut.

00:43:20: Und heute kann ich stolz sagen oder kann ich ganz entspannt sagen,

00:43:26: ja, ich schaue total gerne Liebesfilme. Es gibt Kritik an den Filmen,

00:43:30: aber ich schaue die manchmal total gerne und ich weine da total gerne dazu als Mann.

00:43:34: Und ich trage total gerne manchmal Nagellack, weil es mir gerade gefällt.

00:43:38: Nicht, weil ich nicht ein Mann bin, sondern weil das zu meiner Männlichkeit dazugehört.

00:43:42: Und ich finde diese Freiheit, auch wir sind wieder damit konfrontiert,

00:43:46: dass es für uns keine vorgefertigten Wege gibt oft.

00:43:49: Wie funktioniert eine Beziehung zwischen zwei Frauen oder wie funktioniert eine

00:43:54: Beziehung zwischen Menschen, die nicht nur eine Person lieben?

00:43:58: Wie funktioniert Geschlecht, wenn man zuerst mal ausbrechen muss daraus,

00:44:02: wie man zugeordnet wurde?

00:44:03: Und das ist eine totale Herausforderung, aber es gibt uns auch die Freiheit.

00:44:07: Dass man uns gar nicht vorwerfen kann, dass wir uns nicht an die Konvention

00:44:11: halten, weil wir uns eine neue bauen müssen selber.

00:44:14: Und ich glaube, viele Pärchen, die ich kenne, die cis und hetero sind,

00:44:17: also die nicht queer sind,

00:44:18: die leben so total in den klassischen Strukturen und sind teilweise auch nicht

00:44:22: nur glücklich damit, aber sie finden wie nicht diese Erlaubnis,

00:44:25: sich damit auseinanderzusetzen und ihren eigenen Weg zu finden.

00:44:29: Und wir sind wie in die Wiese geworfen und müssen den Weg selber finden.

00:44:33: Ich glaube, das ist eine herausfordernde, aber total schöne Freiheit.

00:44:36: Ja, das empfinde ich auch so.

00:44:38: Liebe Anna, ich habe noch eine Frage. Sehr gern.

00:44:42: Und zwar, du als Person des öffentlichen Lebens, du als Privatperson,

00:44:46: du als Mensch, der mit Kirche jetzt irgendwie zu tun hat, auf deine ganz eigene

00:44:50: Art und Weise, du als Politikerin, was würdest du sagen...

00:44:53: Was wünschst du dir von der reformierten Kirche? Was können wir beitragen dazu,

00:44:58: dass Menschen nicht nur informierter sind über queere Themen,

00:45:02: sondern auch eben liebevoll, neugierig, empathischer miteinander umgehen?

00:45:06: Was braucht es von uns? Ich habe lernen dürfen, dass vieles,

00:45:10: was in der Kirche passiert, abhängig ist von den unzähligen Menschen,

00:45:15: die Entscheidungen treffen, im Kleinen und im Großen.

00:45:18: Und ich glaube, einerseits können wir uns die Frage stellen,

00:45:21: welche Entscheidungen kann ich selbst treffen, innerhalb der Gemeinschaft, der Gemeinde?

00:45:27: Und andererseits sollten wir uns überlegen, wer sind diese EntscheidungsträgerInnen

00:45:33: und was kann ich dazu beitragen, dass auch sie für eine vielfältige und queerfreundliche Kirche einstehen.

00:45:41: Diese Form von Arbeit mit Leuten, die Entscheidungen treffen und noch nicht

00:45:46: so weit sind, diese Arbeit wünsche ich mir vor allem.

00:45:50: Heute haben wir gehört, dass es okay ist, überfordert zu sein,

00:45:54: solange wir dabei immer wieder versuchen, neugierig zu bleiben,

00:45:58: Fragen zu stellen und uns auch mal korrigieren zu lassen.

00:46:01: Damit helfen wir queeren Menschen, dass sie sich in Zukunft weniger einsam und

00:46:05: isoliert oder fehl am Platz fühlen in unserer Gesellschaft.

00:46:08: Und wir schaffen ein Klima, in dem wir alle die große Freiheit fühlen dürfen,

00:46:13: dass es nicht einfach ein Schema gibt, in das wir uns einpassen müssen,

00:46:16: sondern wir dazu aufgefordert und ermutigt sind, unsere eigenen Wege zu finden,

00:46:21: wie wir authentisch und in Verbindung mit anderen leben können und wollen.

00:46:25: Doch was bedeutet das nun konkret für christliche Gemeinschaften wie die reformierte Kirche?

00:46:30: Wenn du mehr darüber hören willst, dann schalte auch beim nächsten Mal wieder

00:46:33: ein, wenn ich im queeren Einmaleins mit dem Zürcher Kirchenpfleger,

00:46:37: Theologen und Ethiker Michael Braunschweig genau über diese Fragen diskutiere.

00:46:42: Bis dahin, sei behütet und bleib neugierig!

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